„Der Mensch im Stein“ – kein (!) Rechtsdenkmal

Ein häufiges Problem der Lokalgeschichtsforschung ist es, dass Informationen oftmals ungeprüft und lediglich auf eine einzelne Quelle gestützt übernommen werden. Im Falle Mistelbachs kommt hinzu, dass immer wieder auf die vor mehr als hundert Jahren erschienenen Bände der „Geschichte der Stadt Mistelbach“ von Karl Fitzka, zurückgegriffen wird, obwohl seither viele Publikationen erschienen sind, die Fitzkas Darstellungen widersprechen bzw. richtigstellen oder neue Informationen aufgreifen. Zum Teil sind diese von fachkundiger Hand verfassten geschichtlichen Beiträge allerdings nicht in Buchform erschienen, sondern als Beiträge in heimatkundlichen Schriftenreihen (Mistelbach in Vergangenheit und Gegenwart, Heimat im Weinland) oder in Form vom Artikelserien in Lokalzeitungen erschienen und daher heute weniger bekannt bzw. etwas schwieriger zugänglich. Besonders hartnäckig hält sich eine falsche Information betreffend eine im Stadt-Museumsarchiv befindliche Steinskulptur, die auch in Publikationen der jüngsten Vergangenheit – einmal mehr unter Berufung auf die Angaben bei Fitzka – fälschlicherweise als Rechtsdenkmal („Schandbock“) bezeichnet wird.1 Nachfolgend soll das Publikationsgeschehen rund um diese Skulptur dargestellt und alle verfügbaren Informationen zusammengefasst werden. Dabei wird sich zeigen, dass bereits vor mehr als hundert Jahren die Fehleinschätzung zur Bedeutung dieser Skulptur seitens des Urhebers derselben revidiert und richtiggestellt wurde – eine Tatsache, die in Mistelbach allerdings leider nicht zur Kenntnis genommen wurde.

In den 1891 erschienenen „Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien“ (Band XXVIII) veröffentlichte Dr. Karl Lind einen Beitrag zum Thema „Einige ältere Kirchen in Niederösterreich“ und in diesem wird unter anderem auch die 1904 abgebrochene alte Mistelbacher Spitalskirche beschrieben. Anlässlich eines Lokalaugenscheins im Zuge der Arbeit an diesem Beitrag dürfte der Autor auf eine in nächster Nähe zur Spitalskirche befindliche Steinskulptur aufmerksam gemacht worden sein, und auch diese wird in dem Beitrag mit einer Skizze abgebildet und wie folgt beschrieben:
„An der Ecke eines Privathauses befindet sich eine merkwürdige Sculptur, man könnte sie ein Wahrzeichen des Ortes nenne. Sie hat die Gestaltung einer zusammenkauernden Figur, der Kopf mit lockigem Haupthaar ist ganz deutlich zu erkennen. Füsse und Hände sind ausser allem Verhältnisse klein, der Leib nicht dargestellt, sondern ein fast viereckig behauener Steinklotz“2

Die älteste bildliche Darstellung der Steinskulptur an einer Hausecke aus "Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien" des Jahres 1891Die älteste bildliche Darstellung der Steinskulptur an einer Hausecke aus „Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien“ des Jahres 1891

In dem 1899 erschienenen Buch „Wahrzeichen Niederösterreichs“ von Dr. Anton Kerschbaumer wird die Beschreibung und Abbildung aus der Publikation des Alterthums-Vereins Wien exakt gleich wiedergegeben.3 Die obige Beschreibung bzw. bildliche Darstellung scheint insofern irreführend als sich die Figur tatsächlich nicht an der Außenseite einer Haus-/Mauerecke, sondern an deren Innenseite bzw. hofseitig befand und diese versteckte Lage dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass die Skulptur in Mistelbach tatsächlich kaum bekannt war. Deshalb erscheint die in Dr. Linds Beitrag getätigte Behauptung es handle sich um ein Wahrzeichen Mistelbachs keineswegs nachvollziehbar. Es ist unklar, ob die vorstehend genannten Veröffentlichungen in Mistelbach registriert wurden, schließlich kam es erst 1898 zur Gründung des städtischen Museums und in der Folge zu einem ersten Aufarbeiten der Geschichte der Stadt. Ein gesteigertes Interesse an der Skulptur dürften sie jedenfalls nicht verursacht haben, schließlich gab es außer der Beschreibung bislang auch keinerlei Einschätzung worum es sich bei diesem Steindenkmal überhaupt handelt.

Im Zeitraum 1903-1906 wurden im Rahmen einer Beitragsreihe teilweise unter dem Titel „Landeskundliche Mitteilungen“ bzw. „Landes- und ortskundliche Mitteilungen“ regelmäßig heimatkundliche Beiträge in der Zeitung „Der Bote aus dem Waldviertel“ veröffentlicht. Der Autor dieser Beiträge war Franz Xaver Kießling, der sich nach einer Erkrankung aus seiner beruflichen Tätigkeit als Ingenieur zurückziehen musste und sich seither intensiv als Heimatforscher betätigte. Kießling war glühender Deutsch-Nationaler, Schönerianer, fanatischer Antisemit, und geradezu besessen von allem was mit den Germanen zu tun hatte. Diese Obsession Kießlings, der im Wiener Turnverein früh einen beispielgebenden Arierparagrafen durchsetzte, führte auch zu seinen Bestrebungen germanische Bräuche bzw. pseudoreligiöse Riten innerhalb der deutsch-nationalen Bewegung zu etablieren. In einem Anfang Juni 1904 erschienenen Beitrag widmete sich Kießling unter Bezugnahme auf die Schilderungen in den Mitteilungen des Alterthums-Vereins Wien und Kerschbaumers „Wahrzeichen Niederösterreichs“ der gegenständlichen Steinskulptur. Laut eigenem Bekunden betrieb er zu jener Zeit eine Studie zu mittelalterlichen Rechtsdenkmälern und daher versuchte er nähere Informationen zu dieser Steinskulptur einzuholen. Er schrieb darin, dass er vor einigen Jahren Mistelbach besucht habe und ihm dieses Denkmal bei seinem Besuch nicht untergekommen sei.4 Er hatte auch versucht Erkundigungen zu dieser Figur in Mistelbach einzuholen, aber sein Mistelbacher Kontakt (ein nicht namentlich genanntes Mitglied des hiesigen Deutschen Turnvereins) vermeldete lediglich, dass eine solche Figur in Mistelbach nicht existiere bzw. nichts darüber bekannt sei. Daher äußerte Kießling Zweifel ob es sich nicht um eine Verwechslung der Örtlichkeit handelte oder alternativ vermutete er, dass das Denkmal mittlerweile abgekommen sei. Aufgrund der oben abgebildeten Zeichnung vermutete Kießling hinter der gestauchten quaderförmigen Figur, die Darstellung einer Person, die auf einem Straf- bzw. Schandbock gespannt war. Der Bock (auch Stock genannt) war eine Holzkonstruktion (Holzklotz oder -gestell) mit Ausnehmungen für Arme, Beine und den Kopf, die den Verurteilten in eine unangenehme gebückte bzw. hockende Körperhaltung zwang. Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert waren derartige „Ehrenstrafen“ durchaus üblich und der Bock/Stock soll eine Strafe für Männer gewesen sein, die sich Raufereien, üble Nachrede, Ehezänkereien, Ungehorsam gegenüber der Ortsobrigkeit, etc. zu Schulden kommen ließen. Ähnlich der Schandfiedel (Halsgeige), bei der Kopf und Hände in ein Brett eingezwängt wurden und die bei den oben genannten Delikten für die Bestrafung von Frauen vorgesehen war, handelte sich um eine Bestrafung, die an einem öffentlichen Ort abgebüßt werden musste. Gerade die Öffentlichkeit und die damit verbundene Schande und Demütigung war ein wesentlicher Teil dieser meist einige Stunden dauernden Tortur. Daher wurden derart bestrafte Personen an prominenten Plätzen, etwa dem Marktplatz bzw. an der Prangersäule oder an sonst stark frequentierten Plätzen und Straßen, zur Schau gestellt. Die obige Zeichnung der Skultpur, die die Anbringung an einer Hausecke nahelegt dürfte Kießling auf die Idee gebracht haben, dass es sich bei dem Steinbildnis um ein Rechtsdenkmal (ähnlich einem Pranger) handelte mit dem eine Häuserecke markiert worden sein könnte, an der die geschilderte Strafe verbüßt werden musste.5 Wie sich in einem Nachtrag in der folgenden Ausgabe herausstellte, waren die Informationen seines Mistelbacher Vertrauten nicht korrekt und Kießling hatte zwischenzeitlich einen Brief vom Leiter des Mistelbacher Museums Karl Fitzka erhalten in dem dieser erläuterte, dass sich das gegenständliche Steinbildnis nicht an einer Straßenecke befinde, sondern sich ursprünglich an der „inneren Garten- und Hof-Mauer des ebenerdigen Hauses in der Bahnstraße Nr. 1“ befunden habe. Aber schon vor Jahren sei die Skulptur vom Besitzer des Hauses dem städtischen Museum übergeben worden. Nachdem nun der Verbleib der Figur geklärt war, blieb Kießling bei seiner Rechtsdenkmal-These und vermutete den Ursprung des Steinbildnisses im 16. oder 17. Jahrhundert.6 Ein drittes und letztes Mal findet sich in der Beitragsreihe dann noch ein Verweis auf die Mistelbacher Skulptur und zwar in Zusammenhang mit einem kurzen Beitrag mit dem Titel „Über Schandsteine und Schand-Ecken“. Kießling vermutete in einer Fußnote zu diesem Beitrag, dass auch dieses Steinbildnis einst über einer solchen „Schandecke“ angebracht war. Er mutmaßt weiter, dass das Denkmal von einem späteren Hausbesitzer abmontiert worden sein dürfte, schließlich konnte ein solches Bildnis in späterer Zeit als ehrenrührig empfunden worden sein bzw. Anlass für Spott geboten haben. So sei es dann schließlich an seinen letzten Standort und zwar die Innenseite einer Garten- bzw. Hofmauer gekommen.7

Links neben dem 1873 errichteten Schulgebäude in der Bahnstraße (heute Teil des Gebäudekomplexes der Mittelschulen) das alte bis ca. 1904 bestehende Gebäude mit der für ein Eckhaus üblichen Doppeladresse Bahnstraße 1/Mitschastraße 2Links neben dem 1873 errichteten Schulgebäude in der Bahnstraße (heute Teil des Gebäudekomplexes der Mittelschulen) das alte bis ca. 1904 bestehende Gebäude mit der für ein Eckhaus üblichen Doppeladresse Bahnstraße 1/Mitschastraße 2

Der Blick vom Schulgebäude in der Bahnstraße über die Dächer des Wiedenviertels hinweg auf die am Kirchenberg thronende Pfarrkirche. Auf dieser Aufnahme aus der Zeit zwischen 1898 und 1904 (möglicherweise 1903) ist am unteren Bildrand teilweise das Haus Bahnstraße Nr. 1 und ein Teil des Gartens, sowie die diesen umgebende Mauer abgebildet. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Skulptur bereits in den Beständen des Museums und es ist ersichtlich, dass die Gartenmauer in die die Skulptur einst eingemauert gewesen sein soll, recht niedrig war und ihre Innenseite ansonsten ohne jegliche sonstige Zierde gestaltet war.Der Blick vom Schulgebäude in der Bahnstraße über die Dächer des Wiedenviertels hinweg auf die am Kirchenberg thronende Pfarrkirche. Auf dieser Aufnahme aus der Zeit zwischen 1898 und 1904 (möglicherweise 1903) ist am unteren Bildrand teilweise das Haus Bahnstraße Nr. 1 und ein Teil des Gartens, sowie die diesen umgebende Mauer abgebildet. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Skulptur bereits in den Beständen des Museums und es ist ersichtlich, dass die Gartenmauer in die die Skulptur einst eingemauert gewesen sein soll, recht niedrig war und ihre Innenseite ansonsten ohne jegliche sonstige Zierde gestaltet war.

Fitzka meldete sich jedoch nicht nur bei Kießling, sondern informierte auch die „k.k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der kunst- und historischen Denkmale“ in Wien darüber, dass sich die Skulptur mittlerweile in den Beständen des damals im Rathaus untergebrachten Mistelbacher Heimatmuseums befand.8 Die Kommission ersuchte daraufhin um Übermittlung zweier Fotografien (Front- und Seitenansicht) und diesem Ersuchen leistete Fitzka selbstverständlich umgehend Folge.

Wahrscheinlich die älteste fotografische Darstellung der Skulptur und möglicherweise eines der Fotos, die für die Zentral-Kommission angefertigt wurdenWahrscheinlich die älteste fotografische Darstellung der Skulptur und möglicherweise eines der Fotos, die für die oben erwähnte Zentral-Kommission angefertigt wurden

 

Vorderansicht der Steinskulptur - Höhe: 45 cm, Breite: 27 cmVorderansicht der Steinskulptur – Höhe: 45 cm, Breite: 27 cm

 

Seitenansicht der Steinskulptur - Tiefe: 21 cm; beim rauhen Teil rechts handelt es sich um Mörtelreste aus der Zeit als die Figur Teil einer Mauer warSeitenansicht der Steinskulptur – Tiefe: 21 cm; beim rauhen Teil rechts handelt es sich um Mörtelreste aus der Zeit als die Figur Teil einer Mauer war

Fitzka griff die Deutung Kießlings in seiner im „Mistelbacher Bote“ erschienenen Artikelserie „Nachträge und Ergänzungen zur Geschichte der Stadt Mistelbach“ unter dem Titel „Ein altertümliches Rechtsdenkmal“ 1907 auf und lieferte eine Zusammenfassung der zu diesem Steinbildnis bekannten Informationen bzw. auf Kießlings Einschätzung gestützt Beschreibungen von Gerätschaften zur Bestrafung.9 Die in den Jahren 1907-1908 veröffentlichten Nachträge und Ergänzungen wurden später zu einem 1912 vollendeten, jedoch erst 1913 erschienenen „Nachtrags- und Ergänzungsband zur Geschichte der Stadt Mistelbach“ (Band II) zusammengefasst.10 Schon in Fitzkas auszugsweise als Replik auf Kießlings Beitrag im „Bote aus dem Waldviertel“ abgedruckten Brief schreibt er, dass es sich um eine Figur aus Marmor handle. Allerdings um keinen echten Marmor, sondern sogenannten „salzburgischen Marmor“. Dabei handelt es sich um im Flachgau abgebauten hochwertigen Kalkstein, der aufgrund seiner hohen Dichte eine marmorähnliche Polierfähigkeit aufweist und daher bei Bildhauern sehr beliebt war.11 Die Farbe der Steinfigur schwankt je nach Lichteinfall zwischen rosa und beige. Fitzka gibt den Zeitpunkt an dem die Steinskulptur dem Museum durch den Besitzer des Hauses Bahnstraße 1/Mitschastr. 2, Stadtsekretär Alexander Zickl, übergeben wurde mit dem Jahr 1899 an.12 Zickl, der 1915 nach dem Tod Fitzkas die Leitung des städtischen Museums übernahm, sorgte also dafür, dass diese Skulptur bereits einige Jahre vor dem um etwa 1904 erfolgten Abbruch des alten Hauses Bahnstraße 1 und dessen Neuerrichtung als prachtvolles Wohn- und Geschäftshaus in die Bestände des Mistelbacher Heimatmuseums kam. Den Hausbesitzern des Jahres 1900 sind in Fitzkas Geschichte der Stadt Mistelbach auch jene im Jahr 1799 gegenübergestellt und damals scheint als Besitzer des Eckhauses Bahnstraße/Mitschastraße (=Konskr. Nr. 379)  ein Maurermeister namens Franz Poller auf13 und Fitzka mutmaßt, dass dieser die Steinskulptur aufgrund des wertvollen Materials in sein Haus integriert haben könnte. Fitzka schildert die Standortgeschichte soweit nachvollziehbar wie folgt: der Interpretation Kießlings vertrauend vermutete er dass sich das Bildnis einst an einer Häuserecke befand, ob dies tatsächlich die Ecke Bahnstraße/Mitschastraße gewesen sei – lässt er offen. Erwiesenermaßen sei sie dann an der Innenseite der Gartenmauer des Hauses Bahnstraße 1 eingemauert gewesen und später in die Hofmauer desselben Hauses versetzt worden. Dies war der letzte Standort der Skulptur ehe sie dem Heimatmuseum übergeben wurde.

In falscher Deutung des rauhen, kreisförmigen Endes über dem Kopf der Figur bzw. einer Fehlinterpretation der gezeichneten Darstellung aus 1891 ließ Fitzka einen spitzen steinernen „Aufsatz“ für die Skulptur anfertigen.

Die in Fitzkas Nachtrags- und Ergänzungsband veröffentlichte Fotografie des Denkmals mit der „falschen Spitze“

Es ist erstaunlich, dass trotzdem sich die Figur offenbar bereits 1899 in den Beständen des städtischen Museums befand, selbige weder von Fitzka in seiner 1901 erschienenen Geschichte der Stadt Mistelbach, noch im von Don Clemens Cžácha verfassten Mistelbach-Beitrag im Rahmen der Topographie des Vereins für Landeskunde Erwähnung findet. Dies deutet darauf hin, dass man offenbar so rein gar nichts mit der Skulptur anzufangen wusste.

1914, also im Jahr nachdem Fitzkas zweiter Band zur Geschichte Mistelbachs erschien, veröffentlichte Kießling einen Teil seiner zuvor im „Bote aus dem Waldviertel“ erschienen Beiträge in Buchform unter dem Titel: „Altertümische Kreuz- und Quer-Züge“.14 Darin fasst er auf den Seiten 85-86 nochmals die bisherigen Erkenntnisse zu diesem Steinbildnis inklusive seiner Deutung der Skulptur als Rechtsdenkmal zusammen. Ebenso erneuerte er seine Datierung auf das 16. – 17. Jahrhundert und widersprach damit einer offenbar von Fitzka geäußerten (oder nur übermittelten) Vermutung, die das Steinbildnis ins 12. – 13. Jahrhundert verortete und zwar mit der Begründung, dass derartige Darstellungen im deutschen Sprachraum zu jener Zeit schlicht nicht gegeben habe. Durch seine Behandlung der Skulptur hatte er ihr jedenfalls einiges an Aufmerksamkeit beschert, denn unter Bezugnahme auf Korrespondenz mit Fitzka schreibt er, dass selbige seither das Interesse vieler Fachleute auf dem Gebiet der Archäologie und Altertumskunde gefunden habe, die Experten aber keine Erklärung zu ihre Bedeutung bzw. Herkunft gehabt hätten.15 Die wirklich bedeutende neue Information findet sich allerdings erst im Anhang, in dem er zu verschiedenen Beiträgen Nachtragsnotizen liefert und hier ist auf Seite 627 zu lesen: „Zu Seite 85: Mistelbach (Merkwüridge Skulptur): Gelegentlich einer Besichtigung der Burg Lichtenstein (sic!) bei Mödling, im Laufe des Monats Mai 1909, bemerkte der Verfasser eine „Skulptur“, die der zu Mistelbach ähnlich erscheint. Sie befindet sich auf dem Kapitäle einer aus Stein gemeißelten Säule, die das linksseitige Gewände einer Tür bildet, die aus dem im ersten Stockwerke gelegenen Büchereizimmer auf einen kleinen Söller hinausführt, der in der Richtung gegen den Gasthof Hodwagner angebracht ist. Möglicherweise ist auch das Mistelbacher, für manche Forscher noch rätselhafte Bildwerk, als ein dem 15. Jahrhunderte zuzuzählendes „Kapitäl“ anzusprechen. …“16 Es erstaunt, dass Kiesling diese wesentliche Erkenntnis, auf die er offenbar schon fünf Jahre vor Erscheinen des Buches gestoßen ist, nicht direkt in den Beitrag aufnahm, sondern selbige im sehr umfangreichen und zahlreiche Nachträge enthaltenden Anhang versteckt. Bedeutsam ist allerdings vielmehr der Inhalt, und zwar, dass der Urheber der „Rechtsdenkmaltheorie“ diese selbst verworfen hat und als erster nunmehr die Skulptur als Teil einer Säule interpretierte. Durch die Tatsache, dass dieses Buch zu spät erschien, um noch in Fitzkas zweiten Band einfließen zu können und den Umstand, dass diese bedeutende Information im Anhang versteckt war, wurde sie in Mistelbach leider nicht zur Kenntnis genommen.

Die nächste Erwähnung findet die Figur in einem Artikel des „Mistelbacher Bote“ zu Beginn des Jahres 1924, wo der Volkskundler Anton Mailly selbige unter dem Titel „Mistelbacher Skulptur“ wie folgt beschreibt und interpretiert:
„Die sogenannte „Mistelbacher Skulptur“ im Museum zu Mistelbach hat die Gestalt einer wie etwa in einem barocken Block eingezwängten Figur, von der nur der Kopf und die verkümmerten Hände und Beine sichtbar sind. Der gelockte Kopf hat ein knabenhaftes Aussehen. Oberhalb des Kopfes ist das Standbild glatt und wagrecht (sic!) abgemeißelt. Die sonderbare Kopfbedeckung wurde in neuerer Zeit in der Meinung angebracht, daß sie zur Vervollständigung der Figur gehöre, weil sie für ein Rechtssymbol (einen in Bock gespannten Mann) gehalten wurde. Das jugendliche, schalkartige Gesicht und vor allem die Platte sprechen schon gegen diese Annahme. Die Figur ist eine gewöhnliche Sockelfigur einer Säule, eines Pfeilers oder eines Bogens gewesen, wie man solche originelle Darstellungen, die den Druck einer schweren Last gar trefflich zum Ausdruck bringen in alten Klöstern, Kirchen und Burgen oft findet. Als Beispiele hiefür könnte man unter anderen den knieenden Mann im Millstätter Klostergang, der auf dem Kopfe eine Säule trägt, und den Träger eines Bogens im Kreuzgang zu Königslutter erwähnen.
Anton Mailly (Wien)“17

Mailly veröffentlichte 1927 ein kleines Büchlein mit dem Titel „Sagen aus dem Bezirk Mistelbach“ und es erscheint wahrscheinlich, dass er bei den Recherchen zu diesem Werk auf die Steinskulptur aufmerksam wurde und sich veranlasst sah eine Richtigstellung bezüglich deren Bedeutung zu veröffentlichen. Doch leider blieb auch Maillys Richtigstellung nicht dauerhaft im Geschichtsgedächtnis der Stadt bzw. fand offenbar nicht den Weg in die Aufzeichnungen des Heimatmuseums.

Univ.-Prof. Dr. Herbert Mitscha-Märheim, der seit den 1930er Jahre selbst im Heimatmuseum als wissenschaftlicher Berater wirkte, widmete der Skulptur, die er als „Mensch im Stein“ titulierte  im Jahre 1976 einen Beitrag in der heimatkundlichen Schriftenreihe „Mistelbach in Vergangenheit und Gegenwart“ in dem er (in Unkenntnis der Richtigstellung Kießlings und der Darstellung Maillys) selbst zu dem Schluss kam, dass es sich um die Sockelskulptur einer Säule („Säulenfuß“) handelte. Die 16 cm messende kreisrunde, rauhe Fläche über der Figur deutete für ihn klar darauf hin und würde daher für eine Säule ebensolcher Stärke sprechen. Unter Beiziehung von Experten kam er zu dem Schluss, dass es sich um ein Bildnis aus der (Spät)Renaissance handeln dürfte, und zwar vermutlich um den (Sockel-)Fuß eines Portal-/Türpfeilers aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Mitscha-Märheim stellt die bemerkenswerte und durchaus plausible These auf, dass es sich hierbei um einen Überrest der alten, romanischen Pfarrkirche handeln könnte, die zuletzt als Wallfahrtskirche genutzt wurde und Ende des 18. Jahrhunderts abgetragen werden musste (mehr dazu im Beitrag Wallfahrtsort Mistelbach). Er mutmaßt, dass die Figur einst einen Torpfeiler beim Abgang in die unterhalb der alten Pfarrkirche gelegene Gruftkapelle gestützt haben könnte und interpretiert die Figur folgendermaßen: „Der in seine Sündenlast eingeschlossene tote Mensch blickt aus seiner Gruft sehnsuchtsvoll auf Vergebung und Erlösung hoffend dem göttlichen Gericht am Jüngsten Tag entgegen.“ Diese Deutung würde jedenfalls zum düsteren und morbiden, von zahlreichen Schädeln und Knochen geprägten, Erscheinungsbild der Gruftkapelle gepasst haben. Nachdem die Datierung in die Zeit des 30-jährigen Krieges fällt, dessen Schrecken und Verwüstungen auch Mistelbach heimsuchte, scheint es laut Mitscha-Märheim durchaus denkbar, dass vom damaligen Dechant und Pfarrer Paul Pörsi Reparaturen, wie etwa die Wiederherstellung eines Portals, in Auftrag gegeben werden mussten. 18 Wie viele andere Wallfahrtskirchen musste auch die Gruftkapelle mit der samt der darüber befindlichen Kirche 1783 aufgrund eines kaiserlichen Erlasses abgebrochen werden. Möglicherweise war der bei Fitzka erwähnte Maurermeister Poller an den Abbrucharbeiten der alten Pfarrkirche beteiligt und sicherte sich dieses Bildnis, dass er als Zierrat in seine Gartenmauer einbaute. Wenn dem so war, so ist es ihm zu verdanken, dass ein Stück Bausubstanz der alten Pfarrkirche bzw. der Gruftkapelle die Jahrhunderte überdauert hat.

Die Skulptur im Jahre 2019 im StadtmuseumsarchivDie Skulptur im Jahre 2019 im Stadt-Museumsarchiv

Bildnachweise:
-) älteste Abbildung 1891: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien, Band XXVIII (1891), S. 60 (online bei Google Books)
-) altes Haus Bahnstraße 1: Stadt-Museumsarchiv Mistelbach
-) Ansicht Innenhof Bahnstraße 1: zVg von Frau Christa Jakob aus der Dokumentation „Verdrängt und Vergessen- Die jüdische Gemeinde in Mistelbach“ (Buch und Dauerausstellung)
-) vermutlich älteste Fotografie: Stadt-Museumsarchiv Mistelbach
-) Front und Seitenansicht der Skulptur: Göstl-Archiv
-) Foto der Skultpur mit „Aufsatz“: Stadt-Museumsarchiv Mistelbach bzw. Fitzka, Karl: Ergänzungs- und Nachtragsband zur Geschichte der Stadt Mistelbach (1912), zw. S. 66-67
-) Foto 2019: Thomas Kruspel, 2019

Quellen:

  1. Exl, Mag. Engelbert: 125 Jahre Stadt Mistelbach – Ein Lesebuch (1999), S. 48;
    Jakob, Christa: Kulturdenkmäler Mistelbach, Band I (2015), S. 84
  2. Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien, Band XXVIII (1891), S. 60 (online bei Google Books)
  3. Kerschbaumer, Anton: Wahrzeichen Niederösterreichs (1899), S. 73
  4. Der geschilderte Besuch findet sich erst im Nachtrag: Der Bote aus dem Waldviertel, 15. Juni 1904 (Nr. 636), S. 9 (ONB: ANNO)
  5. Der Bote aus dem Waldviertel, 1. Juni 1904 (Nr. 635), S. 9 (ONB: ANNO)
  6. Der Bote aus dem Waldviertel, 15. Juni 1904 (Nr. 636), S. 9 (ONB: ANNO)
  7. Der Bote aus dem Waldviertel, 1. Juli 1904 (Nr. 637), S. 9 (ONB: ANNO)
  8. Die nachfolgenden Meldungen sind etwas missverständlich, schließlich könnten sie so verstanden werden, als sei das Steinbildnis erst 1904 in die Bestände des Mistelbacher Museums gekommen. Tatsächlich befand es sich laut Fitzka bereits seit 1899 dort: Mittheilungen der k.k. Zentral-Kommission zur Erforschung und Erhaltung der kunst- und historischen Denkmale, Band III – Nr. 7-9, Juli – September 1904, S. 199-200 (ONB: ANNO);
    Wiener Zeitung, 12. Juli (Nr. 157) 1904, S. 6 (ONB: ANNO);
  9. Mistelbacher Bote, Nr. 23/1907, S. 1f (ONB: ANNO)
  10. Fitzka, Karl: Ergänzungs- und Nachtragsband zur Geschichte der Stadt Mistelbach (1912), S. 66-68
  11. siehe hierzu bspw.: Salzburg wiki – Untersberger Marmor
  12. natürlich scheint er als solcher auch in der Häuserliste aus dem Jahr 1900 auf: Fitzka, Karl: Geschichte der Stadt Mistelbach (1901), S. 267
  13. Fitzka, Karl: Geschichte der Stadt Mistelbach (1901), S. 266
  14. Zwar scheint die erstmalige Veröffentlichung unter diesem Titel für das Jahr 1914 belegt zu sein, doch zum Teil wird in anderen lokalgeschichtlichen Werken auch bereits ein offenbar im Jahr 1911 erschienenes Werk Kießlings namens „Kreuz- und Querzüge“ erwähnt. Eine bereits zuvor erfolgte Veröffentlichung – für die allerdings jegliche Belege, etwa in Beständen von Bibliotheken fehlen – würde eventuell auch erklären, warum sich (wie unten geschildert) ein bedeutender Nachtrag lediglich im Anhang versteckt.
  15. Kießling, Franz: Altertümische Kreuz- und Quer-Züge (1914), S. 85f
  16. Kießling, Franz: Altertümische Kreuz- und Quer-Züge (1914), S. 627
  17. Mistelbacher Bote, Nr. 4/1924, S. 2 (ONB: ANNO)
  18. Mitscha-Märheim, Univ.-Prof. Dr. Herbert: „Der Mensch im Stein in Mistelbach“ In: Mistelbach in Vergangenheit und Gegenwart, Band II (1976), S. 241ff
Dieser Beitrag wurde unter Sonstiges veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.